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Der Politikwissenschaftler Dr. Lars Vogel von der Universität Leipzig ist Mitherausgeber und -autor des kürzlich erschienenen Sammelbands "Ferne Eliten. Die Unterrepräsentation von Ostdeutschen und Menschen mit Migrationshintergrund." Das Buch bündelt die Ergebnisse einer interuniversitären Studie von 2018 bis 2021, die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wurde. Ein zentrales Ergebnis: Ostdeutsche waren im Untersuchungszeitraum mit einem Anteil von 11,2 Prozent in Elitenpositionen vertreten bei einem Bevölkerungsanteil von etwa 19 Prozent; 8,9 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund hatten eine Elitenposition inne – bei einem Bevölkerungsanteil von 26 Prozent. Im Nachfolge-Projekt „Elitenmonitor“ erforscht Dr. Lars Vogel gemeinsam mit Wissenschaftler:innen in Leipzig, Jena und Zittau/Görlitz die seitdem bestätigten Befunde weiter und entwickelt Handlungsempfehlungen.

Herr Dr. Vogel, warum ist die Unterrepräsentation von Ostdeutschen in den Eliten Deutschlands fast 35 Jahre nach der Wende noch immer ein Problem?

Bei der Unterrepräsentation handelt es sich keineswegs nur um ein ostdeutsches Phänomen. Es betrifft verschiedene soziale Gruppen. Ein Problem ist es aus mehreren Gründen: Für ein demokratisches Gemeinwesen ist mangelnde Chancengleichheit beim Zugang zu Elitenpositionen im Grunde inakzeptabel. Als Gesellschaft verschenkt man sich zudem etwas, wenn man bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht in entscheidenden Positionen vertreten hat. Denn sie bringen neue Ideen ein, sehen Probleme vielleicht anders, tragen zu anderen Lösungen bei. Unterrepräsentation, so zeigen unserer Ergebnisse, steht zudem im Zusammenhang mit einem verringerten Zugehörigkeitsgefühl zur Gesellschaft. Sich als Bürger zweiter Klasse zu empfinden ist wiederum ein starker Treiber für antidemokratische Einstellungen und die Wahl populistischer Parteien. Es ist also ein gesamtgesellschaftliches Problem.

In Ihrer Studie haben Sie die Unterrepräsentation von Ostdeutschen sowie von Menschen mit Migrationshintergrund untersucht. Welche Unterschiede haben Sie festgestellt?

Wesentliche Unterschiede zeigten sich zwischen den Sektoren, also den zwölf Bereichen der Gesellschaft, die wir untersucht haben. So waren Ostdeutsche in der Politik im Untersuchungszeitraum mit 19,8 Prozent vertreten. Das klingt erst einmal sehr gut. Dies liegt jedoch daran, dass Politik föderal funktioniert und damit der regionale Bezug auf Landesebene wichtiger ist. Sobald Sie die Landesebene herauslassen und nur auf die politischen Spitzenpositionen auf Bundesebene schauen, ist der Anteil mit 8,1 Prozent einstellig. Für Menschen mit Migrationshintergrund ist der Anteil in Elitenpositionen in der Politik sogar noch geringer, nur 6,7 Prozent. Gründe dafür sind unter anderem, dass weniger Menschen mit Migrationshintergrund akademische Abschlüsse haben oder überhaupt die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, die Voraussetzung für Ämter oberhalb der kommunalen Ebene ist.

Wie sieht es denn in anderen Sektoren aus?

In Wirtschaft, Medien, Kultur und Religion sind Menschen mit Migrationshintergrund besser vertreten als Ostdeutsche, wenn auch noch immer unterrepräsentiert. Allerdings haben Eliten überwiegend westlichen Migrationshintergrund – im Unterschied zur Bevölkerung. Bei Spitzenpositionen in Konzernen etwa greifen wirtschaftliche Verflechtungen in die USA oder in andere westeuropäische Länder. Bei nichtchristlichen Religionsgemeinschaften sind es die organisatorischen Verbindungen in andere Länder. In Medien und Kultur sind Eliteangehörige mit Migrationshintergrund zum Beispiel international renommierte Dirigenten, Regisseure und andere Künstler. Man muss also genau hinschauen, wer sich hinter den Zahlen verbirgt.

Löst sich das Problem, zumindest was die Ostdeutschen betrifft, nicht von selbst mit dem Wechsel der Generationen in Führungspositionen?

Das wird zwar oft vermutet, aber damit ist nicht zu rechnen. Als im Zuge der Wende die DDR-Eliten verdrängt wurden, rückten einerseits Personen nach, die sich durch Politik-Ferne in der DDR ausgezeichnet hatten, wie Theologen und Naturwissenschaftler. Andererseits wurden Personen aus Westdeutschland "importiert". Das Problem dabei ist, dass einmal etablierte Elitekonfigurationen bestehen bleiben. Warum? Menschen tendieren dazu Personen zu bevorzugen, die einem irgendwie ähneln, deren Lebensläufe vertraute Eckpunkte enthalten: Wo ist jemand aufgewachsen, an welcher Universität hat jemand studiert und so weiter. Wir nennen dieses Phänomen in der Forschung "Homophilie". Viele Ostdeutsche fielen da einfach durch das Raster.

Und obwohl die Zeit jetzt da ist, wo Menschen, die seit der Wende Elitenpositionen innehaben, in den Ruhestand gehen, sehen wir bisher nicht, dass Ostdeutsche im großen Maße nachströmen. Wir haben das im Buch die These des nachholenden Aufstiegs genannt, aber der findet einfach nicht statt, wir finden keine handfesten Belege dafür. Zwar deutet andere Forschung an der Universität Leipzig darauf hin, dass bei den Jüngeren die Chancen auf die Übernahme von Führungspositionen von Ost- und Westdeutschen ähnlich sind. Ob das auch für Eliten gilt, steht in Zweifel. So sind Elitenpositionen viel seltener und daher nur mit extrem wenigen Führungspositionen vergleichbar.

Welche Ursachen hat das?

Zu nennen sind hier vor allem akademische Bildung, Selbstexklusion und Netzwerke: Ostdeutsche studieren nach wie vor etwas weniger als Westdeutsche, und ein höherer akademischer Abschluss ist Voraussetzung, um in Elitenpositionen zu kommen. Diejenigen, die noch zu DDR-Zeiten studierten, bekamen zwar ihren Studienabschluss zumeist formal anerkannt, er war aber weniger wert als "Kapital" für Karrieren, die in Elitenpositionen führen. Wir konnten auch beobachten, dass es unter Ostdeutschen eine etwas geringere Neigung gibt, Führungspositionen zu übernehmen. Viele haben einen höheren Anspruch an Eliten und bewerten diese kritischer, was dazu führen kann, dass sie seltener dahin streben. Schließlich neigen Ostdeutsche mehr als Westdeutsche dazu, sich mit Menschen auf gleicher Hierarchie-Ebene zu vernetzen als nach "oben", zu Menschen in höheren Positionen. Genauere Zusammenhänge erforschen wir jetzt im Projekt „Elitenmonitor“, welches vom Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland, Carsten Schneider, gefördert wird.

Wie sehen Ihre Handlungsempfehlungen aus, um die Situation zu ändern?

In vielen Gesprächen im Rahmen des Elitenmonitors haben wir festgestellt, dass es zwar ein Bewusstsein für die Problematik gibt. Aber es herrscht die Vorstellung vor, dass das Problem mit der Zeit und dem Generationswechsel von selbst verschwindet. Das müssen wir ändern, und unsere Forschung soll dazu beitragen. Momentan haben wir Publikationen und Konferenzen geplant, um insbesondere für die genannte Rekrutierungs-Homophilie zu sensibilisieren. Bei Menschen mit Migrationshintergrund ist es wichtig, sie für den Einstieg ins Studium zu werben. Um geeignete Kräfte aus dem mittleren Management für Elitenpositionen zu gewinnen, könnte das gezielte Ansprechen helfen.
Die Repräsentation von Ostdeutschen oder Menschen mit Migrationshintergrund sollte als genauso legitim betrachtet werden wie jene von Frauen. Da kommt man auch nicht mehr auf die Idee zu sagen, das erledige sich schon von selbst. Wichtig ist es, den weiteren Verlauf der Entwicklungen anzuschauen und mit Langzeitforschung zu begleiten. Die Universität Leipzig hat sich dafür bereits als ein Standort für Elitenforschung etabliert.

Publikation:

Der Sammelband „Ferne Eliten. Die Unterrepräsentation von Ostdeutschen und Menschen mit Migrationshintergrund“, herausgegeben von Raj Kollmorgen (Hochschule Zittau/Görlitz), Lars Vogel (Universität Leipzig) und Sabrina Zajak (DeZIM-Institut, Berlin), ist vor Kurzem erschienen.

Hinweis:

Dr. Lars Vogel ist einer von rund 200 Expert:innen der Universität Leipzig, auf deren Fachwissen Sie in unserem Expert:innen-Netzwerk zurückgreifen können.